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KulturPott.Ruhr: Weil Kultur für alle da ist
Silvia Peters beobachtet gespannt das Zusammenspiel auf der Bühne in der Philharmonie Essen. Die 68-Jährige hat eigentlich einen anderen Namen, den will sie aber lieber nicht im Internet lesen. Auf der Bühne: Acht Kontrabässe, zwei Schlagzeuge und ein Pianist. Ein Dirigent wirbelt mit seinem Taktstock durch die Luft, als die ersten Töne anschwellen. Normalerweise könnte sich Peters eine solche Veranstaltung kaum leisten.
Der Seniorin geht es wie Millionen anderer Menschen in NRW. Laut Statistischem Landesamt können rund 3,3 Millionen Menschen am gesellschaftlichen Leben kaum teilhaben, weil ihnen das Geld dafür fehlt. Inzwischen ist jede fünfte Person von Armut bedroht, die Quote steigt seit Jahren kontinuierlich an. Peters hat als pädagogische Mitarbeiterin gearbeitet. Doch seit der Rente fehlt ihr das Geld, um Kulturveranstaltungen zu besuchen. Wieso Peters an diesem Tag trotzdem wie gebannt auf das Geschehen auf der Bühne schauen kann? Das liegt am Verein KulturPott.Ruhr.
Hunderttausende kostenlose Tickets
Seit 15 Jahren ermöglicht der Verein Menschen ohne viel Geld den kostenlosen Besuch von Kulturveranstaltungen. Rund 175.000 Tickets hat KulturPott.Ruhr in dieser Zeit schon vermittelt. Der spendenbasierte Verein ist dafür mit verschiedenen Kultur-Einrichtungen aus dem Ruhrgebiet vernetzt: 484 Veranstaltungen und 360 Sozialpartner stellen ein Kontingent an kostenlosen Tickets zur Verfügung. Unter anderem die Ruhrtriennale, das Schauspielhaus Bochum, Theater- und Philharmonie Essen und die Schalke-Arena. Die Empfänger der Tickets registrieren sich vorher über die Webseite und bekommen maximal zwei Tickets im Monat. Sie müssen nachweisen, dass sie im Monat weniger als 1.350 Euro zur Verfügung haben, Bürgergeld, Wohngeld oder BAföG empfangen.
Vor Beginn des Konzerts erzählt Silvia Peters: „Ich bekomme einen Anruf oder eine E-Mail. Dann wird mir gesagt, welche Vorstellungen ich besuchen kann. Wenn ich Zeit habe, bekomme ich zwei Karten. Das finde ich sehr schön, weil dann darf ich jemanden mitnehmen.“ Die Tickets kann sie einfach am Einlass abholen oder sie steht auf der Gästeliste. Extra ausweisen muss sie sich nicht.
Peters besucht schon seit zwei Jahren regelmäßig Veranstaltungen über den Verein. Sie war schon im Roncalli Zirkus, in Musicals, im Museum und an diesem Abend in der Philharmonie Essen. Dadurch hat die in Bottrop lebende Seniorin schon viel Neues kennengelernt: „Also ich wäre nie in eine Operette gegangen. Die Bandbreite dessen, was möglich ist, hat sich total vergrößert.„
2.
Wenn aus Fremden Freunde werden
Damit das Angebot funktioniert, ist KulturPott.Ruhr auf Ehrenamtliche angewiesen. Insgesamt 85 Menschen engagieren sich inzwischen bei den 16 Zweigstellen in 13 Städten im Ruhrgebiet. Sie informieren nicht nur Interessierte über Tickets, manche begleiten sie auch ein bis zweimal im Monat zu den Veranstaltungen. Zum Beispiel, wenn sie nicht alleine gehen möchten oder keine Begleitung haben.
Liliya Gyrych aus Essen ist eine dieser sogenannten Kulturmentorinnen. Ihre orangen Locken wippen, während sie zum Ticketschalter des Planetariums in Bochum läuft. Eigentlich ist sie Dozentin für politische Bildung und gibt Integrationskurse. „Ich finde das toll. Und das macht Freude. Die Menschen freuen sich, und sie haben einen schönen Abend gehabt, und das ist sehr schön„, sagt Gyrych.
Individuelle Vermittlung von Kulturangeboten
Vor dem Planetarium wartet schon die Gruppe von vier Frauen aus der Ukraine. Alle wohnen in Essen und haben Tickets von KulturPott.Ruhr bekommen, um sich eine Show im Planetarium Bochum anzuschauen. Sie sprechen teilweise gar kein Deutsch oder nur gebrochen. Alle sind vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet. „Theater ist für sie schwierig zu verstehen, aber ein klassisches Konzert oder Planetarium, das geht gut„, sagt Gyrych, die selbst Ukrainisch spricht und 1992 nach Deutschland gezogen ist.

Beim Kultur.Pott werden auch Freundschaften geschlossen
Die Gäste können gegenüber KulturPott.Ruhr sogar ihre Interessen angeben. Ob sie beispielsweise gern ins Theater oder lieber ins Konzert möchten. Außerdem berücksichtigt der Verein bei der Ticketvergabe, ob jemand nur zu Fuß unterwegs ist, oder ein Bahnticket oder Auto zur Verfügung hat. Entsprechend werden Veranstaltungen herausgesucht. „Wir schicken niemanden hin, wo er nicht hin möchte„, sagt KulturPott.Ruhr-Vorsitzende Marita Heiliger.
Auch Liliya Gyrych ist begeistert von den kostenlosen Möglichkeiten
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Der Gruppe hat die Vorstellung gefallen: „Wir möchten unbedingt nochmal kommen. Wir sind für alles offen, Museum oder Konzert„, übersetzt Liliya Gyrych. Dann machen alle noch ein Foto zusammen. Auf dem Weg zum Bahnhof durch den Bochumer Stadtpark tauschen die Frauen ihre Eindrücke aus. Manche kennen sich schon, andere erst seit heute. „Wenn jemand aus der Ukraine kommt, sind das Schwestern und Brüder. Kunst hilft, alles aufzunehmen und zu verarbeiten„, sagt eine von ihnen.
3.
Von der Bedürftigen zur Ehrenamtlerin
Auch Silvia Peters ist nach der Vorstellung in der Philharmonie Essen begeistert. Normalerweise hört sie selten klassische Musik, aber das Konzert von den Berliner Symphonikern hat ihr gut gefallen: „Es fing mit einem Ton an und dann baute es sich auf. Ich finde die Energie, die Dramatik, die rüberkommt, total beeindruckend. Die geht gleich in einen über.„
Die Arbeit von KulturPott.Ruhr hat Silvia Peters so gut gefallen, dass sie sich inzwischen selbst dort ehrenamtlich engagiert. Das bedeutet der 68-Jährigen viel: „Die Menschen sind unheimlich dankbar. Es ist toll, etwas zu bekommen, aber auch etwas zurückzugeben.„
Sie hat die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die ein Ticket erhalten, manchmal einfach ein Gespräch suchen und über sich und ihr Schicksal sprechen möchten. Dann hört Peters auch gern einfach zu.






